Auf dem Campus der TU Kaiserslautern gewinnt ein Leuchtturmprojekt neue Strahlkraft. Unterm filigranen Dach aus Nagelplattenbindern und ETFE-Kissen lebt und studiert es sich jetzt klimaneutral.
Die Bewohner hatten lange dafür gekämpft. Das Dach des Studierendenwohnheims ESA (Energiesparendes Studentenwohnheim Architektur) war nach fast vier Jahrzehnten in die Jahre gekommen. Kondenswasser war überall ins Gebälk des Dachs gekrochen. Die Feuchtigkeit brach sich Bahn, der Abriss drohte.
2019 der erste Erfolg: Das Land Rheinland Pfalz stellt den innovativen Bau aus seriell gefertigten Elementen und innovativen Materialien unter Denkmalschutz. 2020 trat die neugegründete Stiftung der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU) als Bauherr und Betreiber auf den Plan, warb Fördermittel ein und nahm die Sanierung in Angriff. Tatkräftig unterstützt vom Fachbereich Architektur, ehemaligen Bewohnern und Studierenden, die sich mit Selbstbaumaßnahmen engagierten.
ESA Studierendenwohnheim ©Thomas Brenner Kaiserslautern
Ursprünglich in den 1980er Jahren als Experimentalbau auf dem Campus der TU Kaiserslautern errichtet, ist das ESA eine Art Haus-in-Haus-Konstruktion. Eine schützende Außenhaut aus Folienkissen in einem Tragwerk aus Nagelplattenbindern überdacht als Hallenkonstruktion die auf drei Etagen errichteten Häuschen bzw. Zimmer mit ihren Terrassen und Gärten. Wie im Gewächshaus gedeihen hier sattgrüne Rasenflächen genauso wie riesige Tomatenstauden.
Kathrin Kern kennt das ESA noch aus ihrer Studienzeit. Bereits damals war die Architektin vom innovativen Konzept und der seriellen Bauweise begeistert. Jetzt hat die Partnerin des Architekturbüros kksarch Kern Kirchmer Spitzley Architekten das Konzept für die Gebäudesanierung und den Neubau des Dachs entworfen.
Die klare Stoßrichtung gab dabei der Denkmalschutz vor: Wie bei der Planung des ursprünglichen Gebäudes sollte auch die Sanierung ein zukunftsweisendes Konzept verfolgen und mit dem Einsatz innovativer Produkte punkten. War für die Bauherren in den 1980er Jahren ein geringer Ressourcenverbrauch das wichtigste Ziel, lag die Latte jetzt nochmal höher: Mit der Sanierung sollte das komplette Wohnkonzept klimaneutral werden, die CO2-Bilanz also auf Null sinken.
Nagelplatten für eine sichere Verbindung ©Thomas Brenner Kaiserslautern
Beim Entwurf für das neue Dach setzte Kern auf die bewährte Kombination von Nagelplattenbindern und wärmedämmenden Kunststoffmembranen. Für die Architektin eine perfekte Lösung. „Ein Nagelplattenbinder ist ein Industrieprodukt, geprägt durch Ökonomie und rationales Denken.“ Mit ihren schlanken Querschnitten bilden die robusten Hölzer eine wunderbar leicht anmutende Dachkonstruktion. „Das Tragwerk wirkt filigran und luftig“, so Kern. Und das mit minimalem Ressourceneinsatz. Die Architektin bringt das so auf den Punkt: „Die Sparsamkeit beim Materialverbrauch lässt sich mit Nagelplattenbindern ausreizen.“
Einer der Gründe, warum die Bauweise auch Architekturstudierende begeistert, weiß Kern, die als Professorin an der Fernuni IU Internationale Hochschule Entwerfen und Konstruieren lehrt. Dazu komme die filigrane Ästhetik der Bauelemente und die vielfältigen Möglichkeiten in der Konstruktion.
Architektonisch herausragend ist beim ESA nicht nur die Dachkonstruktion, sondern auch die Dacheindeckung mit ETFE-Kissen. Die leichtgewichtigen, weil luftgefüllten Kunststoffmembranen sind mittig zwischen den Achsen der Dachkonstruktion bis zu 80cm dick. War die erste Foliengeneration des ESA zweilagig aufgebaut, sind die neuen Folienkissen vierlagig und können mit ihren drei Luftkammern sehr viel mehr Wärme speichern. „Wir haben heute einen viel besseren U-Wert“, freut sich Kern. Um die Holzkonstruktion sicher vor Feuchtigkeit zu schützen, wurden die Kissen über Stahlwinkeln punktuell aufgeständert und Ablaufrinnen als Kondensschutz installiert. „Über Klappflügel im Trauf- und Firstbereich haben wir die natürliche Querlüftung des Gebäudes verbessert“, so die Architektin.
Zur Statischen Berechnung des Entwurfs für die 39 Meter lange und 18 Meter breite Dach- bzw. Hallenkonstruktion kam MiTek ins Boot. Mit einem erfahrenen Ingenieurteam bietet der Entwickler von Softwarelösungen für den Holzbau und Hersteller von Nagelplatten auch einen umfassenden Statik- und Arbeitsvorbereitungsservice an. „Es gab sehr strenge geometrische Vorgaben“, erzählt Tragwerksplaner Jochen Scherer. „Die Herausforderung bestand darin, dass alle Bauteile präzise darauf abgestimmt werden mussten.“ So war beispielsweise auch die Füllstabanordnung exakt einzuhalten. Scherers Kollege Manuel Macfalda übernahm bei der Planung die Berechnung der Geometrie.
Dass der Planungsprozess dabei völlig reibungslos funktionierte, lag nicht zuletzt an der engen Absprache mit der Architektin und dem Kaiserslauterner Ingenieurbüro IG Bauplan GmbH, das die Anschlussdetails zur Verfügung stellte. Die digitale und vernetzte Bauwerksplanung über BIM machte es möglich. „Wir konnten uns quasi millimetergenau abstimmen“, so Scherer.
Beispielsweise beim Thema Lastausgleich. Um der Außenhaut die nötige Steifigkeit zu geben, müssen die ETFE-Kissen unter einer definierten Spannung bzw. einem Überdruck stehen. Treten aber unplanmäßig veränderte Lastbedingungen auf, beispielsweise durch Schneefall, muss die Spannung sich anpassen. „Dann brauchen wir einen Druckausgleich“, weiß Ingenieur Scherer.
Eine andere Herausforderung: Die Absicherung gegen Windlasten. Denn die Kissen und filigranen Nagelplattenbindern sorgen in Kaiserslautern für eine besonders leichte Dachkonstruktion. „Die muss bei Wind auch stärker festgehalten werden.“
Außenhaut aus ETFE-Kissen ©Thomas Brenner Kaiserslautern
Geplant und realisiert wurde die Hallenkonstruktion mit 12 Parallelbindern im Abstand von 3,45 m und 24 dreieckförmigen Böcken. Sie steifen das Gebäude in Querrichtung aus und bilden gleichzeitig an der niedrigen Traufe die Außenwand. Die Längswand wurde ebenfalls aus Nagelplattenbindern gefertigt, die wie eine Zange die Parallelbinder der Dachkonstruktion aufnehmen. Die maximale Traufhöhe des Dachs liegt bei 9,45 Metern. Eingesetzt wurden Nagelplattenbinder mit einer Holzstärke von 10 Zentimetern.
„Nagelplattenbinderkonstruktionen sind hocheffiziente Tragwerke“, das betont auch Ingenieur Scherer. Im Gegensatz zu flächigen Tragwerken werde nur dort Material verwendet, wo es auch benötigt wird. „Beim Einsatz von Brechtschichtholz verbrauche ich im Vergleich mit Nagelplattenbindern viermal so viel Holz“, rechnet der Tragwerksplaner vor. Ein weiteres dickes Plus der Bauweise: Die serielle, standardisierte Vorfertigung der Bauelemente im Werk. „Die gehört zur DNA von Nagelplattenbindern“, sagt der Experte.
Gefertigt wurde die komplette Dachkonstruktion in den modern ausgestatteten Werkshallen von Holzbau Heil im saarländischen Homburg. Das Familienunternehmen ist in dritter Generation auf Nagelplattenbinderkonstruktionen spezialisiert und beliefert Wohnungsbauunternehmen, Fertighaushersteller, Industrie, Handwerk und private Bauherren. Nagelplattenbinderkonstruktionen ermöglichen eine sehr individuelle Bauweise, erzählt Geschäftsführer Christian Heil. „Sie bietet enorm viele konstruktive Möglichkeiten, da sind der Kreativität keine Grenzen gesetzt.“ Dazu können sehr große Spannweiten überbrückt von bis zu 35m realisiert werden. „In Homburg fertigen wir bis 26 Meter“, so der Binderhersteller. Gefertigt wird mit modernsten Maschinen und industrieller Präzision. Die Fertigung ist fremdüberwacht und erfolgt nach strengen Produktnomen. Die Planung für das ESA wurde hier in Zusammenarbeit mit dem Statikservice von MiTek zuverlässig eins zu eins umgesetzt.
Vor Ort auf der Baustelle können Nagelplattenbinderkonstruktionen dann auch mit kurzen Bauzeiten punkten. Durch die industrielle Vorproduktion war die komplette Dachkonstruktion auf dem Campus in Kaiserslautern schnell montiert. Mit der Montage war im Projekt die Zimmerei Norbert Höh betraut.
Im Zuge der Sanierung ist man im ESA auch bei der Energie- und Wärmeplanung neue Wege gegangen: Was auf dem Dach wie ein riesiger Spoiler aussieht, ist die neue Photovoltaikanlage, erzählt Architektin Kern. Im Gebäude haben Wärmepumpe und Kapillarmatten zum Absorbieren der im Gewächshaus eingefangenen Wärmeenergie die alte Flüssiggas-Heizung abgelöst. Erdsonden nehmen die eingespeiste Energie auf und dienen als Wärmespeicher für den Winter. Die Außenhaut des Gebäudes sorgt zugleich für eine verbesserte Wärmedämmung. Die CO2-Bilanz des ESA ist heute klimaneutral.
Höchste Zeit also, dass das Studierendenwohnheim bald wieder seine Pforten öffnet. Denn unter Denkmalschutz stehen nicht nur Baukonzept und Gebäude, sondern auch die spezielle Sozialstruktur. 20 Bewohner werden sich in diesem besonderen Gewächshaus bald wieder Küche, Gärten und den zentralen Wohnraum teilen. Sie finden hier viel Raum, im Einklang mit Mensch und Natur zu leben und die eigene Kreativität zu entfalten. „Man ist hier direkt unterm Himmel“, schwärmt Kern.